Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften BBWA hat wegweisende Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der „Gesundheitsregion Berlin-Brandenburg“ vorgelegt: Empfehlungen für dringende und langfristige Entwicklungen einer zukünftigen Medizin und künftiger Versorgungstrukturen für die Bevölkerung. Die Digitalisierung (einschließlich Telemedizin) muss umgehend auf internationalem Standard vorangetrieben werden. Basis sind Open-Source-Technologien, ein Ziel ist der Systemwechsel bei dem Krankenhausinformationssystem, bislang Domäne proprietärer IT-Architekturen von Monopolisten.
Die „Empfehlungen der BBAW für die Gesundheitsregion Berlin-Brandenburg. Ein ganzheitliches, holistisches Modell für eine neue Gesundheitspolitik in Deutschland“ listeten für Politik, Wissenschaft und Medizin eine Reihe von Hausaufgaben öffentlich diskutiert und der Presse vorgestellt auf. Für die Hauptstadt gehört dazu: Berlin muss Innovation, Translation und Technologietransfer – d. h. die Anwendung von Forschungsergebnissen in der Praxis, in der Klinik und in der Wirtschaft – deutlich besser als bisher unterstützen und besonders auch private Initiativen fördern. Die ambulante und sektorenübergreifende Versorgung in Primär-Versorgungszentren – auch unter Einbeziehung nicht-klinischer Angebote, Beratungsstellen und einer unabhängigen vertrauenswürdigen digitalen Plattform – muss stärker gefördert werden. Dazu gehören auch finanzielle und personelle Ressourcen für Vernetzungsarbeit, ebenso ein reformiertes Fallpauschalen-System.
Die Digitalisierung durch tragfähige IT-Systeme ohne Bruchstellen zwischen digitaler und analoger Welt übernimmt eine zentrale Rolle. Die Bedeutung großer Datenmengen (Big Data) und ihrer Analyse wird auch jenseits der Prävention und der Grundlagenforschung (u. a. in der Versorgungsforschung, Diagnostik und Therapie) von großer Bedeutung sein. Neue digitale Techniken erlauben es, den Gesundheitszustand von Menschen mit einer Erkrankung regelmäßig zu erheben. Damit kann nicht nur die individuelle Behandlung und Rehabilitation verbessert werden: Die so gewonnenen Daten bilden zugleich die Grundlage für eine Optimierung der Behandlungs- und Rehabilitationsprozesse in der Fläche. Berlin sollte hier in Deutschland Vorreiter werden, so die BBAW.
Kompromisslos zum Open-Source-Standort bekennen
Im Hinblick auf proprietäre IT-Architekturen derzeitiger Monopolisten im Gesundheitsmarkt sollten Open-Source-Standards in Berlin gefördert und entwickelt werden, damit auch kleinere und mittelständische Unternehmen ihre Produkte in den Gesundheitsmarkt einbringen können. Das ist eine wichtige Grundlage für Innovation. Flächendeckend implementierte, standardisierte Datenmodelle und eine IT-Infrastruktur, die Interoperabilitätsstandards sowie Datenschutzvorgaben erfüllt, sind die Grundlage für eine nachhaltige Digitalisierung des Gesundheitswesens und tragen zur IT-Souveränität Deutschlands und Europas bei. Berlin kann so in Deutschland und Europa bei der umfassenden Nutzung von Gesundheitsdaten für eine durch maschinelles Lernen unterstützte Gesundheitsversorgung Vorreiter werden. Dies bereitet den Weg für einen Systemwechsel zu einem Krankenhausinformationssystem (KIS) der nächsten Generation als Voraussetzung für eine moderne datenorientierte Gesundheitsversorgung. Berlin braucht für diese Infrastruktur hohe Investitionen. „Berlin muss sich klar und kompromisslos zum Open-Source-Standort bekennen“, so die Parole.
Konflikt zwischen Datennutzen und Datenschutz
Der Konflikt zwischen Datennutzen und Datenschutz bremst den Fortschritt auf vielen Ebenen
zum Schaden der zu behandelnden Menschen. Er sollte unbedingt und schnell zugunsten einer aus ethischen Gründen notwendigen Möglichkeit der Auswertung von Gesundheitsdaten zum Wohle hilfesuchender Personen gelöst werden. Eine große Hürde stellen nach wie vor die gesetzlichen Rahmenbedingungen des Austauschs und des Einsatzes von Gesundheitsdaten dar.
Dies gilt auf regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene: Beides erfordert mehr Verständnis auf allen Seiten und eventuell neue (rechtliche) Systeme und Plattformen, deren Voraussetzungen dringend geschaffen werden müssen. Die jetzige restriktive Praxis ist ethisch nicht zu verantworten, da Gesundheit und Leben von Erkrankten gefährdet werden durch die Nichtverfügbarkeit vorhandener medizinischer Daten.
Beim Pressegespräch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (links): Klaus Reinhard, Präsident der Bundesärztekammer, (rechts) Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Modulare IT-Systeme für digitale Gesundheitswesen-Standards
Ein übergreifendes, auf internationalen Standards basierendes Datenmodell ist notwendig. Dieses muss dringend in die neuen Entwicklungen aufgenommen und gefördert werden. Es dient dann als gemeinsame Basis für alle zu erfassenden und zu prozessierenden Daten. Auf dieser Basis entstehen die benötigten modernen, modularen IT-Systeme, die den Anforderungen eines digitalen Gesundheitswesen-Standards gerecht werden. Solche Ansätze erlauben darüber eine deutlich leichtere Integration in das entstehende nationale Gesundheitsdaten-Ökosystem Deutschlands: Medizinische Daten liegen zukünftig nicht mehr allein in Krankenhäusern vor, sondern in nationalen Strukturen wie der elektronischen Patientenakte (ePA) auf Basis der Telematik-infrastruktur (TI) sowie des sich parallel entwickelnden European Health Data Space (EHDS).
Medizinischer Fortschritt in Diagnose, Therapie und Rehabilitation durch Digitalisierung ist greifbar. Dies soll durch neue Möglichkeiten organisatorischer und technischer Art mit Unterstützung der gesundheitlichen Versorgung durch Digitalisierung und Innovation möglich gemacht werden. Merkpunkte sind: Tragfähige IT-Systeme ohne Bruchstellen zwischen digitaler und analoger Welt, und ein reformiertes Fallpauschalen-System und Ressourcen, um die Digitalisierung realisieren zu können.
Mit Blick auf Umfang und Geschwindigkeit der Entwicklungen von Impfstoffen wie dem COVID-19-Vakzin BNT162b2 wird deutlich, dass eine moderne, interoperable
Forschungsinfrastruktur als integraler Bestandteil der medizinischen Versorgung ein zentrales Element erfolgreicher klinischer Forschung der Zukunft darstellen wird. Das neue gemeinsame Clinical Study Center (CSC) der Charité und des BIH wurde eingerichtet, um die Unterstützungsinfrastrukturen beider Institutionen zu bündeln, aufeinander abzustimmen und gemäß den zukünftigen Anforderungen für moderne klinische Forschung weiterzuentwickeln.
Detlev Ganten, BBWA Akademiemitglied, Co-Autor der Empfehlungen und Co-Sprecher der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Zukunft der Medizin – Gesundheit für Alle“
Denkanstöße zum Fachkräftemangel
Last but not least kamen Denkanstöße aus der Akademie auch zum Fachkräftemangel in der Gesundheitsversorgung. Die Hauptherausforderung im Gesundheitswesen wird der nicht zuletzt durch die demografische Entwicklung getriebene Fachkräftemangel sein. „Wir müssen mehr in die Ausbildung inverstieren“, betonte PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, gegenüber dem Krankenhaus IT Journal. „Dazu müssen wir das Berufsbild und die Arbeitsbedingungen verbessern“. Begegnet werden kann dieser Herausforderung vor allem durch die Steigerung der Attraktivität medizinischer, pflegerischer und anderer Gesundheitsberufe und -arbeitgeber: „Mehr Zeit für die Patienten aufwenden und nicht für die Bürokratie.“ (Hören Sie das Interview mit DR. Peter Bobbert)
Ein besonderes Kapitel ist Pflege und IT. Das kleine IT-Einmaleins beginnt für die Pflege derzeit erst. „Wir fangen nicht bei Null an, jeder hat ja ein Smartphone in Gebrauch,“ meinte Dr. Bernadette Klapper vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DbfK). Bisher ist IT in der Pflege noch ein offenes Feld, doch Digitalisierung spielt zunehmend eine Rolle bei der Unterstützung, etwa bei der Dokumentation in der Pflege. Die Krankenschwester und Soziologin betonte: „Wichtig ist es, Verständnis bei der Pflege für die IT zu vermitteln, umgekehrt von seiten der IT ebenfalls in Richtung Pflege über wichtige Abläufe zu informieren.“ Nicht zuletzt kann IT-Kompetenz ein Karrierebaustein für die Pflegenden werden. (Hören Sie das Interview mit Dr. Bernadette Klapper)
Die Chance für Berlin liegt in der Sicherung der medizinischen Versorgung und professionellen Pflege durch die verstärkte Ausbildung hochqualifizierter und motivierter Fachkräfte einerseits und die Erhöhung der Attraktivität des Gesundheits- und Wissenschaftsstandorts andererseits durch die Entwicklung neuer Forschungs- und Ausbildungsschwerpunkte.
Interviews:
PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin
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Dr. Bernadette Klapper, Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DbfK)
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Symbolbild: Pixabay/okanakgul