Bundesweit fehlen bis zu 50.000 Vollzeitkräfte in der Intensivpflege der Krankenhäuser. Eine einfache Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Gerade deshalb muss die Politik in Bund und Ländern endlich handeln. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie des Gesundheitssystemforschers Prof. Dr. Michael Simon.*
Die Lage auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser ist besonders angespannt: Pflegekräfte sind chronisch überlastet. Es gibt zu wenig Personal. Die seit langem bestehenden Probleme wurden durch die Corona-Pandemie noch verschärft – und gerieten in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit. Wie groß der Personalmangel tatsächlich ist, wo die Ursachen des Problems liegen, und welche Schritte Politik und Krankenhausbetreiber zu einer Lösung machen müssen, zeigt Simons neue Untersuchung. Darin hat er den bundesweiten Bedarf an Pflegepersonal auf Intensivstationen anhand von Daten der Krankenhausstatistik, die bis zum Jahr 2020 vorliegen, sowie des Intensivregisters berechnet. „Es besteht dringender Handlungsbedarf“, lautet sein Urteil. Unterbesetzung und Arbeitsüberlastung seien „eine Gefahr für die Gesundheit der Patienten und auch für die Gesundheit des Pflegepersonals auf Intensivstationen“.
In deutschen Krankenhäusern gab es 2020 knapp 28.000 Intensivbetten, von denen durchschnittlich circa 21.000 belegt waren. Die Zahl der Pflegekräfte in diesem Bereich entsprach etwa 28.000 Vollzeitäquivalenten. Unter Fachleuten und in der medialen Berichterstattung hält sich die Einschätzung, dass bundesweit ungefähr 3000 bis 4000 Pflegefachkräfte in Vollzeit fehlen. Diese Zahlen sind allerdings abgeleitet von den Stellenplänen der Krankenhäuser, die wiederum von der wirtschaftlichen Situation abhängen. Ein Krankenhaus, das gezwungen ist, Kosten zu sparen, kürzt den Stellenplan. Das wahre Ausmaß des Personalmangels wird dadurch gar nicht sichtbar. Folgt man nicht nur wirtschaftlichen Kriterien bei der Berechnung, gehe die Unterbesetzung „weit über die bisher diskutierte Zahl“ hinaus, schreibt Simon.
Empfehlungen der Fachgesellschaft und gesetzliche Untergrenze als Maßstäbe
Zwar gibt es für die Intensivpflege zurzeit kein verbindliches Verfahren der Personalbedarfsermittlung, wohl aber die Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Seit 2019 gibt es zudem eine bundesweit geltende Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), die Mindestbesetzungen auch für Intensivstationen vorgibt. Mit diesen Maßstäben rechnet Simon und kommt zu folgenden Ergebnissen:
- Nach der PpUGV wären für 21.000 Intensivbetten bundesweit 50.800 Vollzeitkräfte erforderlich – deutlich mehr als die vorhandenen 28.000. Um die Pflegepersonaluntergrenzen einhalten zu können, wäre also eine Verdoppelung des gegenwärtigen Personalbestandes notwendig.
- Um die Empfehlungen der DIVI zu erfüllen, bräuchte es sogar 78.200 Vollzeitkräfte. Daraus ergibt sich für das Jahr 2020 eine Unterbesetzung von 50.000. Um die auszugleichen, wäre eine Verdreifachung des Personalbestandes nötig.
Oder anders ausgedrückt:
- Mit dem aktuellen Personalbestand dürften nach Vorgaben der PpUGV nur 11.700 der 28.000 Intensivbetten genutzt werden. Folglich müssten circa 60 Prozent der vorhandenen Betten „gesperrt“ werden. Dass Betten nicht mit Intensivpatientinnen oder -patienten belegt werden, passiert im kleineren Rahmen einzelner Kliniken schon jetzt häufig, wenn akut Personal fehlt.
- Legt man die Empfehlungen der DIVI zugrunde, wären angesichts der aktuellen Personallage sogar nur rund 7500 Intensivbetten belegbar. Rund 75 Prozent der vorhandenen Betten dürften folglich nicht belegt werden.
Vermutlich liegt die Zahl der Pflegekräfte inzwischen sogar noch niedriger als 2020, weil es während der Pandemie zahlreiche Kündigungen gab, analysiert Simon. So ergab eine Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts, dass im Herbst 2021 in mehr als zwei Dritteln der befragten Krankenhäuser weniger Intensivpflegepersonal tätig war als noch Ende 2020. Daher hatte ein Viertel der Krankenhäuser einen Teil ihrer Intensivbetten gesperrt. Diese Entwicklung zeigt sich auch in den Daten des Intensivregisters. Das Intensivregister wurde kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 eingerichtet und erfasst seitdem zentrale Daten der intensivmedizinischen Versorgung in Krankenhäusern. Ende Dezember 2020 meldeten die Krankenhäuser bundesweit 26.700 belegbare Intensivbetten, von denen 22.000 belegt waren. Anfang April 2022 wurden nur noch 24.400 Intensivbetten gemeldet, von denen 20.600 belegt waren. Die Zahl der Intensivbetten ist somit um knapp 9 Prozent geschrumpft und die der tatsächlich belegten Betten um knapp 7 Prozent. „Zwar können Bettensperrungen kurzfristig eine Entlastung für das Pflegepersonal bewirken, das grundsätzliche Problem der massiven Unterbesetzung können sie nicht lösen“, so der Experte.
Personalmangel auf Intensiv- und Normalstationen angehen
Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über viele Intensivbetten. Während im Durchschnitt der OECD-Länder circa 12 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner vorgehalten werden, sind es in Deutschland 34. Vergleichbare europäische Länder kommen sogar mit weniger als 10 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner aus. So liegt die Intensivbettendichte in Norwegen bei 8,5 und in Dänemark bei 7,8. Das vergleichsweise große Angebot an Intensivplätzen hat in der Corona-Pandemie dabei geholfen, Schlimmeres zu verhindern, es wird aber von manchen Politikern und Experten kritisch betrachtet. „Es wäre jedoch verfehlt, einfach nur eine drastische Reduzierung der Zahl der Intensivbetten zu fordern und anzunehmen, damit könne das Problem gelöst werden“, schreibt Simon. Da die Intensivstationen offensichtlich ausgelastet und vielfach sogar überlastet sind, sei davon auszugehen, dass es einen entsprechenden Bedarf gibt.
Der Experte sieht vor allem die Bundesregierung in der Pflicht: Der Bund könne die intensivmedizinische Versorgung durch Änderungen der PpUGV, die von Fachleuten seit langem geforderte Einführung eines von allen zugelassenen Krankenhäusern verbindlich anzuwendenden Verfahrens zur Personalbedarfsermittlung, eine Umgestaltung des Intensivregisters und Änderungen der Krankenhausfinanzierung verbessern. Außerdem dürfe man das Problem der Intensivstationen nicht isoliert betrachten. Viele Probleme würden auf die Intensivstationen ausgelagert, da auch die Normalstationen „seit mehr als 30 Jahren unterbesetzt“ seien. Ob Patientinnen und Patienten von einer Normalstation auf eine Intensivstation oder von dort wieder zurückverlegt werden können, sei in hohem Maße auch davon abhängig, wie gut Normalstationen besetzt sind.
Die Lage könne sich nur verbessern, wenn der Pflegenotstand insgesamt angepackt wird. „Ankündigungen“ im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition machten zwar Hoffnungen, dass die Regierung „bereit ist, ein konsequentes und wirksames System zur Sicherstellung und Überwachung einer bedarfsgerechten Personalbesetzung“ in Angriff zu nehmen, attestiert der Forscher. Doch das müsse konsequent und zügig auch umgesetzt werden. „Werden nicht sehr bald Maßnahmen ergriffen, durch die eine für die Pflegekräfte direkt spürbare und nachhaltig wirkende Entlastung erreicht wird, droht eine weitere Verschlechterung“, schreibt der Experte. Dann würden mehr Pflegekräfte aufgrund chronischer Arbeitsüberlastung, wachsender Unzufriedenheit und tiefer Enttäuschung über die Untätigkeit der Politik kündigen und ihren Beruf verlassen.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Symbolbild: ixabay/sasint