Page 23 - KH_IT_124_FINAL
P. 23
Welche Auswirkungen der Digitalisierung auf den Wie sollten Angehörige auf der universitären
Arbeitsmarkt im Gesundheitswesen sind zu erwarten? Ebene die Digitalisierung im Gesundheitswesen
Wie muss sich die Gesellschaft mit der Geschwindig- verantwortungsvoll mitgestalten?
keit auseinandersetzen, mit der die Anwendung von KI Prof. Kernebeck: Die Universitäten und Fachhochschulen
Einzug hält?
müssen die Digitalisierung im Gesundheitswesen verant-
Prof. Kernebeck: Die Digitalisierung hat bis heute in den wortungsvoll mitgestalten. Dies erfordert interdisziplinäre
Arbeitsprozessen im Gesundheitswesen viel verändert Zusammenarbeit zwischen allen Berufen im Gesundheitswe-
und wird zweifellos auch in Zukunft den Arbeitsmarkt im sen und den technischen Disziplinen sowie der Perspektive
Gesundheitswesen drastisch beeinflussen. Routineaufga- der Ethik. Durch die Integration digitaler Kompetenzen in
ben könnten z.B. automatisiert werden, wodurch sich die Curricular müssen wir allen Berufen im Gesundheitswesen
Aufgaben und Arbeitsweisen der Gesundheitsfachberufe die Möglichkeit geben, die Digitalisierung ethisch und sozial
deutlich verändert. Hierbei besteht bei mir die große Hoff- verantwortungsvoll zu gestalten. Wir müssen uns also hinter-
nung, dass dadurch z.B. mehr Zeit für die direkte Betreuung fragen und das Thema Digitalisierung proaktiv mitgestalten.
und Kommunikation mit den Patient:innen geschaffen wird.
Ich sehe allerdings die große Gefahr, dass die freiwerdenden
Ressourcen aufgrund von ökonomischen Interessen und
Kostendruck nicht gewinnbringend für die direkte Betreu-
ung und Kommunikation der Patient:innen bereitgestellt
werden. Unabhängig von meinen Bedenken sehe ich einen
großen Bedarf, das Thema Bildung grundsätzlich neu zu den-
ken: Alle Bildungseinrichtungen müssen sicherstellen, dass
ihre Curricula einen Lehr- und Lernraum bereitstellen, dass
Menschen digitale Kompetenzen entwickeln können. Ein
bewusster Umgang mit der Geschwindigkeit, mit der KI
und Digitalisierung per se Einzug hält, erfordert eine pro-
aktive Anpassung und eine enge Zusammenarbeit zwischen
Industrie, Bildungseinrichtungen und Politik. Integriert
zu digitalen Kompetenzen müssen wir die Kompetenzori-
entierung viel deutlicher in Richtung Selbstlernfähigkeit,
kritische Reflexionsfähig, Adaptionsfähigkeit und insbe-
sondere problembasierte, interdisziplinäre Projektarbeit
ausrichten. KI oder Digitalisierung an sich macht ja erstmal
keinen Menschen gesund. Wir brauchen zudem gut aus-
gebildete Fachkräfte, die über ein hohes Maß an digitalen
Kompetenzen verfügen, um mit digitalen Technologien
gewinnbringend umzugehen.
Welche Leitplanken gegen „Digital Divide“ sind zu
installieren?
Prof. Kernebeck: Die Frage knüpft an meine bisherigen Aus-
führungen nahtlos an. Menschen müssen die Möglichkeit
haben, digitalen Kompetenzen unabhängig vom sozioökono-
mischen Status des Elternhauses entwickeln zu können, um
einer sozialen Kluft im Sinne des Digital Divide vorzubeu-
gen. Wir tragen als Hochschule diese Verantwortung. Aber
ich bin der Überzeugung, dass wir nur einen gewissen Anteil
zur Entwicklung digitaler Kompetenzen und zur Reduktion
von Digital Divide beitragen können. Es müssen bestimmte
Grundlagen in den allgemeinbildenden Schulen und das Prof. Dr. rer. medic. Sven Kernebeck, MPH, Professur für
Thema soziale Gerechtigkeit von der Politik grundsätzlich Digitalisierung im Gesundheitswesen, Fachbereich Gesundheit,
adressiert werden. FH Münster Department of Health
Krankenhaus-IT Journal 1 /2024
23