Page 86 - KH_IT_1_21
P. 86
Aus dem Markt Abteilung des HDZ NRW. Die erste Fragestellung an clinalytics
Initiator des Projektes mit Dedalus HealthCare war die IT-
ist die nach dem Risiko für Patienten, postoperativ ein Delir zu
entwickeln, also zeitweise geistig verwirrt zu sein. „Störungen
der Wahrnehmung und des Denkens sind nach großen Ein-
griffen ein Warnsignal, da sie mit einer erhöhten Sterblichkeit
einhergehen können. Damit hat das Delir für uns eine hohe
klinische Bedeutung für die Patientenversorgung“, erläutert Prof.
von Dossow den Grund für das Interesse an dieser Fragestellung.
Das Ziel ist, die Patienten über Präventionsstrategien so verläss-
lich zu beurteilen, dass sie möglichst schonend und sicher durch
den gesamten perioperativen Verlauf begleitet werden können.
„Von clinalytics versprechen wir uns eine valide Einschätzung
des patientenindividuellen Risikos bei einer Operation und der
zugehörigen Narkoseführung“, so Dr. Hulde. Bislang haben die
Ärzte auf den sogenannten Propensity Score gesetzt, also eine
Analyse vergangener Therapien anhand verschiedener Parame-
ter. Der Einsatz der Bioinformatik und neuronaler Netzwerke
bietet jedoch einen ganz neuen Ansatz, um konkreten Fragestel-
lungen nachzugehen.
Versorgung verbessern, Folgen reduzieren
Dr. Nikolai Hulde: „Ich erwartet am Tag vor der OP für meine Patienten einen
Die Analysen sollen im ersten Schritt darin münden, unter- Fahrplan, der Risikofaktoren und mögliche Komplikationen individuell aufführt.“
schiedliche Patientengruppen zu klassifizieren. Gruppe 1 bei-
spielsweise umfasst stabile, normale Patienten ohne erwartete
Komplikationen. Gruppe 2 hingegen führt Patienten auf, bei Individueller Fahrplan für die Anästhesie
denen während der OP unter Umständen Probleme auftauchen Im HDZ NRW ist clinalytics noch nicht im klinischen Ein-
könnten. „Das können wir selbstverständlich auch heute bereits. satz. Die künstliche Intelligenz wird gegenwärtig anhand großer
Von einem KI-Modell wie clinalytics erwarte ich mir jedoch, Datensätze aus den letzten zehn Jahren trainiert. Gegen Ende
dass die Aussagen noch präziser und patientenindividueller für des Jahres soll dieser Prozess beendet sein.
die Narkoseführung sind“, sagt Prof. von Dossow. Wie aber wird es dann im Institut für Anästhesiologie und
Damit können sich die Anästhesisten dann besser auf den Pati- Schmerztherapie eingesetzt? „Das System ist so konzipiert, dass
enten und auf die OP einstellen, was nicht zuletzt die Patienten- es das Delir-Risiko eines Patienten tagesaktuell anzeigt“, so Prof.
sicherheit erhöht. Und genau das ist für die Institutsdirektorin von Dossow. „Darüber hinaus können wir all das im Nachhi-
der zentrale Punkt: „Eine Narkose ist von Patient zu Patient nein statistisch auswerten. Da geht es dann etwa um die Frage,
unterschiedlich und muss individuell abgestimmt sein. Nur wie das Risiko präoperativ war und was dazu geführt hat, dass
dann können wir eine schnelle Erholung gewährleisten, die wie- das Delir-Risiko angestiegen oder gesunken ist. So können wir
derum zu einem kürzeren intensivstationären Aufenthalt führt.“ Rückschlüsse für die Arbeitsanweisungen ziehen.“
Ein anderer Aspekt sind die Langzeitfolgen einer Operation und Dr. Hulde erwartet sich konkret am Tag vor der OP für
damit die Lebensqualität. So gilt es zu vermeiden, dass Patienten seine Patienten einen Fahrplan, der Risikofaktoren und mög-
pflegebedürftig in die häusliche Umgebung entlassen werden liche Komplikationen individuell aufführt. Dazu gehören bei-
oder gar in eine Spezialeinrichtung überführt werden müssen. spielsweise die Grenzen der Kreislaufparameter oder der gesam-
Einem postoperativen Delir folgt nicht selten ein kognitives ten physiologischen Körperparameter. „Daraus sollte dann im
Defizit, das sich zum Teil über Wochen oder Monate erstrecken Rahmen einer Entscheidungsfindung automatisch etwa die
kann. „Wenn wir das durch eine KI-gestützte Vorhersage redu- Medikamentierung abgeleitet werden. Selbstverständlich wür-
zieren könnten, wäre das ein unheimlicher Gewinn“, ergänzt Dr. den wir nicht blind auf diese Vorschläge vertrauen, sondern
Hulde. Ein Delir ist nicht immer vermeidbar. Wird es allerdings sie im Zusammenhang überprüfen. Sie sollen aber sehr wohl
rechtzeitig erkannt und behandelt, kann man die Dauer ver- als Anhaltspunkt dienen, um zu entscheiden, welche Parame-
kürzen – und das beginnt bereits bei der Narkoseführung. Eine ter wir anstreben: wie die Herzfrequenz sein soll oder welche
weitere Erwartung der Anästhesisten im HDZ NRW ist es, auf Blutdruckwerte eingehalten werden“, so der Oberarzt. Einen
Basis der gewonnenen Erkenntnisse Standard-Arbeitsanwei- großen Vorteil sieht er besonders beim Einsatz der Herz-Lun-
sungen (SOP) zu entwickeln beziehungsweise bestehende zu gen-Maschine, etwa um einen etwas höheren Mitteldruck des
überprüfen. Blutdrucks anzustreben.
Krankenhaus-IT Journal 1 /2021
086