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Aus dem Markt  Abteilung des HDZ NRW. Die erste Fragestellung an clinalytics


           Initiator des Projektes mit Dedalus HealthCare war die IT-


           ist die nach dem Risiko für Patienten, postoperativ ein Delir zu
           entwickeln, also zeitweise geistig verwirrt zu sein. „Störungen
           der Wahrnehmung und des Denkens sind nach großen Ein-
           griffen ein Warnsignal, da sie mit einer erhöhten Sterblichkeit
           einhergehen können. Damit hat das Delir für uns eine hohe
           klinische Bedeutung für die Patientenversorgung“, erläutert Prof.
           von Dossow den Grund für das Interesse an dieser Fragestellung.
           Das Ziel ist, die Patienten über Präventionsstrategien so verläss-
           lich zu beurteilen, dass sie möglichst schonend und sicher durch
           den gesamten perioperativen Verlauf begleitet werden können.
              „Von clinalytics versprechen wir uns eine valide Einschätzung
           des patientenindividuellen Risikos bei einer Operation und der
           zugehörigen Narkoseführung“, so Dr. Hulde. Bislang haben die
           Ärzte auf den sogenannten Propensity Score gesetzt, also eine
           Analyse vergangener Therapien anhand verschiedener Parame-
           ter. Der Einsatz der Bioinformatik und neuronaler Netzwerke
           bietet jedoch einen ganz neuen Ansatz, um konkreten Fragestel-
           lungen nachzugehen.

           Versorgung verbessern, Folgen reduzieren
                                                            Dr. Nikolai Hulde: „Ich erwartet am Tag vor der OP für meine Patienten einen
           Die Analysen sollen im ersten Schritt darin münden, unter-  Fahrplan, der Risikofaktoren und mögliche Komplikationen individuell aufführt.“
           schiedliche Patientengruppen zu klassifizieren. Gruppe 1 bei-
           spielsweise umfasst stabile, normale Patienten ohne erwartete
           Komplikationen. Gruppe 2 hingegen führt Patienten auf, bei   Individueller Fahrplan für die Anästhesie
           denen während der OP unter Umständen Probleme auftauchen   Im HDZ NRW ist clinalytics noch nicht im klinischen Ein-
           könnten. „Das können wir selbstverständlich auch heute bereits.   satz. Die künstliche Intelligenz wird gegenwärtig anhand großer
           Von einem KI-Modell wie clinalytics erwarte ich mir jedoch,   Datensätze aus den letzten zehn Jahren trainiert. Gegen Ende
           dass die Aussagen noch präziser und patientenindividueller für   des Jahres soll dieser Prozess beendet sein.
           die Narkoseführung sind“, sagt Prof. von Dossow.   Wie aber wird es dann im Institut für Anästhesiologie und
           Damit können sich die Anästhesisten dann besser auf den Pati-  Schmerztherapie eingesetzt? „Das System ist so konzipiert, dass
           enten und auf die OP einstellen, was nicht zuletzt die Patienten-  es das Delir-Risiko eines Patienten tagesaktuell anzeigt“, so Prof.
           sicherheit erhöht. Und genau das ist für die Institutsdirektorin   von Dossow. „Darüber hinaus können wir all das im Nachhi-
           der zentrale Punkt: „Eine Narkose ist von Patient zu Patient   nein statistisch auswerten. Da geht es dann etwa um die Frage,
           unterschiedlich und muss individuell abgestimmt sein. Nur   wie das Risiko präoperativ war und was dazu geführt hat, dass
           dann können wir eine schnelle Erholung gewährleisten, die wie-  das Delir-Risiko angestiegen oder gesunken ist. So können wir
           derum zu einem kürzeren intensivstationären Aufenthalt führt.“   Rückschlüsse für die Arbeitsanweisungen ziehen.“
           Ein anderer Aspekt sind die Langzeitfolgen einer Operation und   Dr. Hulde erwartet sich konkret am Tag vor der OP für
           damit die Lebensqualität. So gilt es zu vermeiden, dass Patienten   seine Patienten einen Fahrplan, der Risikofaktoren und mög-
           pflegebedürftig in die häusliche Umgebung entlassen werden   liche Komplikationen individuell aufführt. Dazu gehören bei-
           oder gar in eine Spezialeinrichtung überführt werden müssen.   spielsweise die Grenzen der Kreislaufparameter oder der gesam-
           Einem postoperativen Delir folgt nicht selten ein kognitives   ten physiologischen Körperparameter. „Daraus sollte dann im
           Defizit, das sich zum Teil über Wochen oder Monate erstrecken   Rahmen einer Entscheidungsfindung automatisch etwa die
           kann. „Wenn wir das durch eine KI-gestützte Vorhersage redu-  Medikamentierung abgeleitet werden. Selbstverständlich wür-
           zieren könnten, wäre das ein unheimlicher Gewinn“, ergänzt Dr.   den wir nicht blind auf diese Vorschläge vertrauen, sondern
           Hulde. Ein Delir ist nicht immer vermeidbar. Wird es allerdings   sie im Zusammenhang überprüfen. Sie sollen aber sehr wohl
           rechtzeitig erkannt und behandelt, kann man die Dauer ver-  als Anhaltspunkt dienen, um zu entscheiden, welche Parame-
           kürzen – und das beginnt bereits bei der Narkoseführung. Eine   ter wir anstreben: wie die Herzfrequenz sein soll oder welche
           weitere Erwartung der Anästhesisten im HDZ NRW ist es, auf   Blutdruckwerte  eingehalten  werden“, so der  Oberarzt.  Einen
           Basis der gewonnenen Erkenntnisse Standard-Arbeitsanwei-  großen Vorteil sieht er besonders beim Einsatz der Herz-Lun-
           sungen (SOP) zu entwickeln beziehungsweise bestehende zu   gen-Maschine, etwa um einen etwas höheren Mitteldruck des
           überprüfen.                                      Blutdrucks anzustreben.


                                                                                    Krankenhaus-IT Journal 1 /2021
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